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Die Beichte von Tante Lydie

Die Beichte von Tante Lydie

 


Maurice Leblanc

Die Beichte von Tante Lydie

 Das Geräusch eines Sturzes ertönte. Ich rannte hin. Tante Lydia lag auf dem Rücken und war lila im Gesicht.

Ich eilte zu ihr. Sie stöhnte mit undeutlicher Stimme:

- Ein Priester ... Ich möchte ... beichten ...

Verzweifelt erklärte ich ihr, dass meine Eltern auf dem Markt waren, dass der Hof verlassen und das Dorf weit weg war. Sie flüsterte hartnäckig: "Ein Priester
... ein Priester ...".


Ich renne wie ein Verrückter weg.

Hätte ich einen anderen Pfarrer als Abbé Douillart, meinen Nachhilfelehrer in französischer Grammatik, gekannt, hätte mich mein kindlicher Instinkt gewiss zu
diesem anderen geführt.


Aber er war ein guter Mann! Sein großer, dicker Puppenkopf mit den krausen Haaren und der rosigen Haut erinnerte an die pausbäckigen Amoretten, die man auf den Rückseiten
alter Bücher sieht. Er aß und trank viel. In der Umgebung gab es kein Festmahl, zu dem er nicht eingeladen wurde. Nach dem Essen erzählte er unter Männern, mit einem Fläschchen Wein vor sich, von
seinen Schandtaten. So viele kleine Gläser, so viele Geschichten. Man wusste es, und wenn er sich mit hochgezogener Soutane auf einen Stuhl setzte, füllte einer der Anwesenden sein Glas. Er leerte die Hälfte,
erzählte seine Anekdote und rief uns dann, nachdem er ausgetrunken hatte, zu:


- Nun, meine Brüder, was haltet ihr von dieser?

Was für ein Kontrast zu Tante Lydie, wie ich sie geahnt hatte, wie sie vor allem meine Eltern mir seitdem geschildert hatten!

Ich weiß nicht genau, was diese trockene und fromme alte Jungfer dazu bewogen hatte, ein paar Tage bei uns auf dem Land zu verbringen. Jedes Jahr lehnte sie unsere Einladung
ab und zog das Reiben der Soutane oder das Gackern unter den Hörnern der Nonnen allen Vergnügungen vor. Außerdem mochte sie meinen Vater nicht, weil er die Religion verspottete, und meine Mutter mochte sie
nicht, weil sie ihren Mann mit einer zu demonstrativen Zuneigung verehrte. Ihr Verhalten war von zwei Prinzipien geprägt: blinder Glaube an die kleinsten Äußerungen der Diener Gottes und ihre strenge Tugend
und Hass auf die Liebe, die sie nicht kannte.


 

Als ich vor dem Pfarrhaus ankam, klingelte ich so laut, dass die Klingel abriss. Félicie, ein kleines Hausmädchen, öffnete mir die Tür.

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Bella
Ein Beitrag von Bella.
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